Rückschau auf die Werkschau von Torsten Wegener
Unser Freund Torsten Wegener, begeisterter Theaterzuschauer und Sozialwirt, hat alle Stücke unserer Werkschau gesehen und dazu einen Text geschrieben. Diesen wollen wir hier als kleinen Rückblick auf unsere Arbeit veröffentlichen.
Cie. Freaks & Fremde – Werkschau 2023, Societaetstheater Dresden
Vier Theaterabende: 30.09., Blut am Hals der Katze (Fassbinder), 13.10., Die Jüdin von Toledo (Feuchtwanger), 7.11., Metropol (Ruge), 29.11., Der Bau (Kafka).
Vier ganz unterschiedliche Stücke (in die man tief eintauchen konnte, denn es waren vier eindrucksvolle Theatervorstellungen) – lässt sich dennoch ein erzählerischer Bogen spannen, in den die vier Stücke hineingewoben werden können? Ich meine schon und beginne … hinten. DER BAU, das einzige Stück, zu dem ich den Prosatext gelesen habe, bevor ich zur Vorstellung kam. Wiedergelesen, denn ich hatte den Text noch zu DDR-Zeiten zum ersten Mal in der Hand gehabt. Vor beinahe 35 Jahren! Und so, wie er in der Vorstellung interpretiert wurde, hatte ich ihn in Erinnerung: ein Bau-bewohnendes Lebewesen, das angstvoll unter der Erde wohnt, in dem es sich den Bau zwar wohl eingerichtet hat, aber auch ständig besorgt darüber ist, der Bau könnte von anderen, nicht näher bezeichneten Lebewesen zerstört oder erobert oder es selbst könnte aus ihm vertrieben werden. Die Angst vor dem, was außerhalb des Baus vor sich geht und den Bau und womöglich den Baubewohner selbst bedrohen könnte, ‚führt die Regie‘, davon erzählt das vorgeführte Stück.
Beim vorherigen Lesen des Textes drängte sich mir eine etwas andere Lesart auf. Kafka erzählt ja auch, wie der Baubewohner von der Pflege des Baus, der optimalen Nutzung seiner Räume und Gänge in Anspruch genommen wird. An den Überlegungen, was als nächstes im und am Bau zu tun ist, zum Beispiel Löcher stopfen, die kleinere Lebewesen gegraben haben oder wo Vorräte am besten zu lagern sind, um sowohl den Überblick zu behalten als auch deren dezentrale Verfügbarkeit sicherzustellen, darf der Leser intensiv teilnehmen. In diesen Kontext fällt auch das Bemühen des Baubewohners, ein störendes Geräusch zunächst zu lokalisieren und, als dies nicht gelingt, zu erklären und schließlich, als auch eine schlüssige Erklärung nicht gefunden wird, darüber zu mutmaßen, ob eine reale Gefahr hinter dem Geräusch stecken könnte. Der Leser erlebt, wie der Baubewohner zwar stolz auf sein Werk ist, aber eben zugleich stark von diesem Werk absorbiert wird. Er rackert sich ab und man sieht, wie die mit dem Erhalt und Schutz des Werkes verbundene Arbeit und Anstrengung den Baubewohner ermüdet; wir sehen dabei zu, wie manche als notwendig erkannte Tätigkeiten aufgeschoben und „auf ein ander Mal“ vertagt wird. Zweitens erzählt Kafka jedoch auch davon, wie der Baubewohner sich einmal außerhalb des Baus aufhält und man hört ihn darüber räsonieren, dass die Gefahren, den er außerhalb des Baus ausgesetzt ist, viel größer wären. Sie seien sogar so groß und vor allem allesamt zeitgleich vorhanden, dass man sie gar nicht – wie innerhalb des Baus möglich – einzeln voneinander unterscheiden könne. Der Leser darf also denken, dass der Bau und das Leben im Bau aus Sicht des Baubewohners zwar nicht perfekt aber doch deutlich besser sei als ein Leben draußen. Das Leben draußen, lernt der Leser, erscheint dem Baubewohner sogar so gefährlich, dass er lange hin und her überlegt, wie er es am besten anstellen sollte, unbemerkt von diesem Draußen wieder in den Bau gelangen könnte.
Wenn man nun diese beiden von Kafka erzählten Aspekte mitdenkt, erscheint der Text wie ein gleichnishaftes Nachdenken über das Verhältnis des Menschen gegenüber seinen Werken, seinen Bauten. Dass das Leben IN diesen Bauten dem Bewohner ängstlich gegenüber allem, was draußen ist, werden lässt, ist dann nur noch eine Facette dieses Verhältnisses, dass man vielleicht so beschreiben könnte: der Mensch als Schöpfer des Werkes stellt sich mehr oder weniger vollständig in den Dienst dieses Werkes.
Und was der Mensch als sein Werk ansieht (und sich mit diesem identifiziert), ist eben manchmal – und damit komme ich schon zum Kaufmann Jehuda Ibn Esra aus der JÜDIN VON TOLEDO – seinem Entschluss geschuldet. Jehuda Ibn Esra verlässt seine Heimat, um als Berater des Königs Alfonso mitzuhelfen, ein neues Kastilien aufzubauen. Er stellt sich ganz in den Dienst dieser Aufgabe, dieses Werks. Was das neue Kastilien sein soll und wie sich die Auffassungen des Königs von denen seines Beraters unterscheiden und welche Auffassung sich letztlich durchsetzt, ist vergleichbar mit den Überlegungen des Baubewohners über die optimale Verteilung der Vorräte auf die verfügbaren Plätze innerhalb des Baus. Es sind Auseinandersetzungen darüber, wie das Staatswesen Kastilien unter Berücksichtigung äußerer Feinde im Innern gestaltet werden sollte. Und Jehuda rackert sich ab und müht sich, die Wünsche seines Herren, in dessen Reich er sich unbedingt nützlich machen möchte, zu antizipieren, zu verstehen und ihn gut zu beraten. Tag und Nacht überlegt er, was er Kluges empfehlen könnte. Und – wie auch immer die Entscheidungen seines Herrn ausfallen (und sie fallen selten so aus, wie sie Jehuda empfohlen hat), Jehuda stellt sich in ihren Dienst; seine Loyalität steht nicht zur Debatte. Er ist bereit, große Opfer zu bringen; den Staat, das Werk, den Bau zu verlassen, ist für ihn keine Option. Dass der Bau, der Staat Kastilien voller Mängel ist, nimmt er hin, allerdings nicht (oder noch nicht) passiv-ergeben, resignierend, sondern (immer sich selbst und seine Familie ermunternd) nachdenklich, als Auftrag geduldig und einsichtig zu sein, als Auftrag weiterzumachen, selbst wenn er (wie der schon etwas erschöpfte Baubewohner) noch nicht so genau sagen kann, wann diese und jene als nötig erkannte Reparatur erledigt werden würde.
Noch etwas abstrakter ist das Werk, in dem die Akteure des METROPOL agieren: die Ideologie des Sozialismus. Alle Akteure sind Kommunisten, ihr Werk ist die Umsetzung der Ideologie, die Schaffung des Sozialismus im Sowjetreich. Niemals würden sie einem äußeren Feind erlauben, das schon Erreichte wieder zunichtezumachen – das eint alle diese Bau- bzw. Hotel-Metropol-Bewohner. Sie rackern sich ab, dieses Werk zu erhalten, nicht zu gefährden. Ihre bedingungslose Liebe zu ihrem (oder anderer Genossen) Werk geht bis zur Selbstverleugnung: sie bezichtigen sich, Fehler gemacht zu haben, wo sie nur das Beste für den Sozialismus im Sinn hatten; sie räumen begangene Kapitalverbrechen ein, auch wenn diese letztlich nur sehr geringfügige Fehltritte waren. Sie sind bereit, demjenigen zu folgen, der die Definitionsmacht über die Umsetzung der Ideologie innehat (in dem Falle Stalin, oder die Leute, die den vermeintlichen Willen Stalins exekutieren); sie glauben der Führung, wenn diese die geringstmögliche Verfehlung eines Einzelnen als größtmögliche Bedrohung des Ganzen ansehen und dafür – konsequenterweise – die Todesstrafe verhängen. Ja, ihr Glaube geht sogar so weit, dass sie die Todesstrafe in demütiger Einsicht in alles Gesagte für sich selbst fordern oder die Opferung naher Verwandter oder Kampfgenossen als richtig akzeptieren.
Weder in JÜDIN VON TOLEDO noch in METROPOL blicken die Akteure mal von außen auf das, worin sie verstrickt sind, auf das, was sie so total absorbiert, auf das, was sie darinnen tun. Sie stellen nicht die Frage, ob das Werk als solches grundsätzlich das Richtige ist. (Dass das im METROPOL nicht geschieht, obwohl der Autor wohl in dem Text das Schicksal eigener Angehöriger aufzuarbeiten versucht, ist mindestens irritierend. Es zeigt aber, wie tief der Mensch eben verstrickt sein kann in das, was er – auch gedanklich – tut.) Marx hat, humanistisch-kritisch, ein solches Handeln in seiner Verfremdungstheorie beschrieben: der Mensch schafft das Werk und dann ‚schafft es ihn‘, macht ihn zum Anhängsel seines Werkes. Aus Sicht der Systemtheorie, erscheint das, positiv formuliert, lediglich als eine Art Reproduktion des Systems (Autopoesies, Luhmann). Immerhin darf sich der Zuschauer angesichts des Terrors, mit dem die Menschen innerhalb ihres Baus übereinander herfallen, fragen, ob nicht eine weniger geschlossene, ideologiefreiere Verfassung ein besseres Zusammenleben innerhalb des Baus ermöglichen würde.
Hier ist nun der Punkt, auf BLUT AM HALS DER KATZE zu sprechen zu kommen. Was hier als ein Werk des Menschen in Szene gesetzt wird, sind Liebes- oder familiäre Beziehungen zwischen Menschen. Doch dieses Stück bietet in der Figur Phoebe Zeitgeist eine äußere Betrachterin der Geschehnisse. Sie guckt und hört zu, so gut es ihr möglich ist. Da sie eine Außerirdische ist, versteht sie allerdings so gut wie gar nichts, was vor ihren Augen und Ohren vor sich geht. Um in ihrer außerirdischen Lebenswelt, in die sie irgendwann zurückkehren soll, über die Welt der Menschen berichten zu können, merkt sie sich Worte oder Sätze, die ihr markant erscheinen. Der Zuschauer, der diesem Auswahl- und Memoriervorgang zuschaut, vermag sich anhand dessen, was Phoebe Zeitgeist aufschnappt und sich einprägt, kaum vorzustellen, wie daraus eine sinnvolle Geschichte über die Menschen und ihre Art und Weise, Beziehungen untereinander zu gestalten, erzählt werden könnte. Und so hört man etwas belustigt und befremdet am Schluss des Stückes zu, als sie die eingeprägten Sätze der Reihe nach aufsagt. Aber was wird hier eigentlich vorgeführt? Phoebe Zeitgeist führt in sehr überspitzter Art und Weise vor, dass man ein Binnenleben nur höchst unvollständig, eigentlich aber gar nicht von außen verstehen und erfassen kann. Sätze, die in einer Beziehung zwischen zwei Menschen gesagt werden, sind ja nicht lediglich durch die ausgesprochenen Worte, sondern auch unter Berücksichtigung ihres Kontextes verständlich, den wiederum womöglich nur die miteinander Kommunizierenden kennen und (richtig oder falsch) deuten. Kommunikation ist Arbeit der Kommunizierenden an ihrer Beziehung – es ist das Werk, IHR Werk, ihr BAU. Ein willkürlich herausgerissener Satz (ein nach außen gerissener Satz – und genau das ist es, was Phoebe Zeitgeist tut) kann nicht das ganze Werk, die ganze Beziehung wiedergeben. (Und folgender Aspekt macht es noch schwerer: Der Zuschauer erlebt, dass zwischen den Personen, die im Stück miteinander sprechen, manches unklar bleibt, worüber die Personen überhaupt erst noch eine Verständigung erreichen müssten. Diese unterbleibt jedoch meist, die Dinge werden nicht ausdiskutiert. Und aus solch unvollständigen Dialogen extrahiert Phoebe Zeitgeist einzelne Sätze – wie könnten diese irgendetwas vollständig beschreiben?)
Nimmt man nun alle vier Stücke zusammen, lässt sich erstens also folgendes denken: So sehr es den im Bau/im Werk Absorbierten manchmal zu raten ist, den Blick von außen, das Aufwerfen von Grundsatzfragen zu wagen, so schwierig ist es auch, dass man genau dabei nicht zu kurz greift, nur oberflächlich erfasst, was drinnen vorgeht. (Man kann es sich überhaupt nur als permanentes, wiederkehrendes Gespräch vorstellen, Binnen- und Außenperspektive einander verständlich und vollständig zu machen. Dieser Anspruch, dieser Wunsch, zu einer guten Zusammenschau von Innen und Außen zu kommen, wäre dann allerdings wiederum ein Menschenwerk, womöglich ein eigener neuer Bau …)
Und zweitens lässt sich, anknüpfend an den Kafka-Text, resümieren, dass die Bauten des Menschen zwar voller Tücken und Fehlstellen sind, die einen in den Wahnsinn oder wenigstens in einen Erschöpfungszustand zu treiben imstande sind, aber dass diese Bauten dennoch als das geringere Übel gegenüber einer unbebauten Außenwelt erscheinen und damit in jedem Falle einem Leben im Draußen vorzuziehen sind. (Wenn man den Text so interpretiert, dass er auf jegliche menschlichen Werke anzuwenden ist, dann ist ja gar nichts anderes, als dass der Mensch in Bauten lebt, denkbar.
Ein Leben außerhalb des Baus steht dann praktisch gar nicht zur Debatte, erscheint auch vollkommen abwegig. Wie wollte man sich ein solches Leben auch vorstellen? Der Mensch könnte das gar nicht.
Er kann nicht keinen Bau errichten. Oder präziser: Er kann nicht keinen mangelfreien Bau errichten.
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